Vor neun Monaten habe ich zwei Dinge in meinem Leben verändert: Ich habe mit Krafttraining angefangen. Und mir einen Personal Trainer genommen. Er wurde mir von einer Bekannten empfohlen, weil er, wie sie betonte, "niemandem ungefragt Abnehmtipps gibt". Ich vereinbarte einen Termin. Vorher bekam ich einen Fragebogen zugeschickt, ähnlich dem Anamnese-Bogen beim Arzt, Schmerzen, Operationen, Krankheiten, so was. Zusätzlich sollte ich ihm zur Vorbereitung auf unser erstes Treffen Fotos schicken: von meinem Körper in verschiedenen Positionen (Stand, Hocke) – und von allem, was ich innerhalb einer Woche aß.
Kein Ding, dachte ich. Ganzkörperfotos sind jetzt nichts, was übermäßig Spaß macht. Aber lustigerweise stellte es sich als viel problematischer heraus, mein Essen zu fotografieren. Zum einen, weil ich schlicht oft zu hungrig war. Ich griff manchmal erst dann zum Handy, wenn der Teller schon halb leer war. Ich fotografierte ihn trotzdem, und ergänzte in der Mail später, was auf dem Foto nicht zu sehen war.
Viel schlimmer aber war das Gefühl, das mich beim Fotografieren meines Essens überkam: Scham. Ich fand das Ganze fast zu intim. Intimer als mein Äußeres zu fotografieren, war es, das zu fotografieren, was ich meinem Inneren zuführte. Völlig egal, dass das halbe Internet voller Essensfotos war. Oder vielleicht genau deshalb?
Du bist, was du isst. So heißt es doch. In einer Kultur, in der einzelne Lebensmittel moralisch aufgeladen und als gut oder böse markiert werden, wer war ich da, wenn ich einen Salat mit Hühnchen aß? Eine Pizza? Kinder-Schokolade?
Meinen Trainer Arlow Pieniak interessierte das alles gar nicht, stellte ich fest. Er wollte schlicht wissen: Isst sie genug?
Sein Kommentar zu meinen Fotos: "Sehr hochwertig. Bisschen wenig. Aber nicht katastrophal wenig, immerhin."
Und als er mir nach
unserem ersten zweistündigen Training riet, ich solle nun möglichst
schnell etwas essen, einfach beim nächsten Bäcker ein belegtes
Brötchen holen, "ordentlich laden", nannte er das, da musste ich fast lachen.
Ich dachte: Hä? Laden? Wie so einen Tank? Mir kam das ein bisschen obszön vor.
Mittlerweile sehen Arlow und ich uns etwa alle drei Monate. Er wohnt in Hamburg, ich in Berlin. Wenn wir uns treffen, erstellt er mir ein Programm mit verschiedenen Kraftübungen, die ich dann in meinem Berliner Fitnessstudio durchführe. Arlow hat ein eigenes Studio, außerdem gibt er Onlinekurse, er hat in seiner über 25-jährigen Trainerlaufbahn bereits Tausende Körper gesehen, sagt er. Die meisten, die zu ihm kommen, hätten schon ein paar Fehlversuche hinter sich. "Oft ähneln die sich auch: Man hat angefangen, zu trainieren, Laufen, Fitnessstudio, YouTube-Work-outs. Und gleichzeitig begonnen, auf die Ernährung zu achten, wie es so schön heißt. Ich brauch meist gar nicht zu fragen. Bei den meisten heißt das: abnehmen."
Das war auch mein Ziel, als ich zu Arlow kam. Aber wenn ich ehrlich bin, wollte ich vielleicht auch mit Krafttraining gegensteuern? Nicht komplett die Kontrolle verlieren, da ich mich beim Essen ja nun nicht mehr einschränkte.
Ich wollte schon länger mit Krafttraining beginnen, wusste aber nie, wie. Dass mir ein Trainer Übungen zeigt, die ich dann in meinem Studio absolviere, und auch ansprechbar bleibt, ab und an Videos von den Übungen sehen will, ist für mich die perfekte Balance aus Freiheit und Kontrolle. Dreimal die Woche, etwa 30 Minuten vor der Arbeit. Läuft, würde ich sagen.
Arlow erzählt, wer zu ihm kommt, würde zunächst betonen, er oder sie wolle stärker werden, den Alltag besser meistern, einen gut funktionierenden Körper haben. "Aber schon nach kurzer Zeit wird klar: Es geht vor allem darum, Gewicht zu verlieren. Das heißt, eine Person, die vorher vielleicht 2.500 Kalorien brauchte, erhöht ihren Kalorienbedarf durch Sport, und statt mehr zu essen, senkt sie die Kalorienmenge meist drastisch und isst beispielsweise nur noch 1.500 Kalorien. Das ist, als würde man eine Kerze an zwei Seiten anzünden. Die meisten meiner Kundinnen und Kunden brauchen tatsächlich eher mehr Kalorien als weniger, um ihren Körper in eine leistungsfähige und gesunde Form zu bringen."
Was meinst du denn mit leistungsfähig, Arlow?
"Damit meine ich keine Wettkämpfe, sondern dass ich gut durch den Alltag komme, keine Schmerzen habe, genug Energie für alles. Das wäre das Ziel."
Die meisten Trainer sagen einem aber doch, man solle mehr trainieren und weniger essen!
"Der Körper braucht eine bestimmte Menge Energie, ob er Sport macht oder nicht. Und wenn er diese Energie nicht bekommt und das Defizit zu groß wird, schaltet er in den Notmodus. Er reduziert alles, was Energie verbraucht. Nach meiner Erfahrung dauert es so drei bis sechs Wochen, nachdem man so eine neue Routine begonnen hat, und der Körper kann nicht mehr."
Wie zeigt sich das?
"Krämpfe, Krankheit, Schwäche, Schmerzen, was auch immer. Kreislauf und Gehirn machen schlapp, man wird müde und unkonzentriert, manchmal sogar leicht depressiv. Muskelmasse schwindet oder wird überhaupt nicht aufgebaut. Und der Körper zieht keine Energie mehr aus dem Fett, der Fettstoffwechsel erlahmt. Das scheint ja eine Art Hungersnot zu sein, denkt er und hält am Fett fest, für noch schlechtere Zeiten. Es wird alles abgeschnitten, was nicht überlebenswichtig ist. Die Kraft, abends noch Freunde zu treffen, Spaß zu haben. Der Job ist wichtig, die Kinder müssen versorgt werden. Für alles, was darüber hinaus möglich wäre, fehlt die Kraft."
Ups, denke ich, als er das erzählt. Kenne ich.
"In diesem Modus sind wahnsinnig viele. Meiner Erfahrung nach auch die Mehrheit der Menschen, die als übergewichtig gelten."
Moment mal. Die meisten würden doch sagen: Dicke essen zu viel?
Arlow sagt: Die
meisten, die er kenne, hätten sich über Jahre zu ihrem dicken Körper gehungert.
Ich ahne, was
er meint. Diäten funktionieren nicht, jedenfalls nicht langfristig, das haben
wir an anderer
Stelle schon festgestellt. Nicht nur, dass die meisten Menschen
laut Studien ihr verlorenes Gewicht innerhalb von fünf Jahren wieder drauf
haben. Zwei
Drittel nehmen sogar mehr zu, als sie vorher abgenommen hatten.
Ob nun dick oder dünn: Es kommt doch auch darauf an, was ich esse? Nicht nur, wie viel?
"Natürlich ist es wichtig, dass ich Nährstoffe zu mir nehme. Aber alle, die zu mir kommen, wissen ganz genau, was eine nährstoffreiche Ernährung ausmacht. Niemand isst nur Nudeln mit Ketchup oder Currywurst, alle wissen, dass Gemüse gesund ist."
Arlows Eindruck ist, dass viele sich beim Essen verzetteln. "Da geht es um Details wie: Sollte ich besser Chia- oder Leinsamen essen? Das große Ganze wird aus den Augen verloren."
Das große Ganze ist seiner Meinung nach: die Menge. Viele würden nicht genug essen. Und das hemme sie im Alltag und beim Training gleichermaßen.
Okay. Was heißt das nun für mich? Eigentlich weigere ich mich, Kalorien zu zählen. Aber vielleicht geht es in dem Fall nicht anders: Wie viel bräuchte mein Körper denn nun?
"So, wie ich deinen Körper kenne, wäre meine Schätzung: 2.500 Kalorien am Tag. Aber nur, weil du richtiges Krafttraining machst. Ohne Training wären es so um die 2.200."
Das wären dann, auf drei Mahlzeiten aufgeteilt, jeweils etwa 700/800 Kalorien. Was heißt das konkret?
"Wer morgens ein Porridge mit ein bisschen Obst und Nüssen isst, kommt auf 350/400 Kalorien, das ist so viel wie zwei belegte Scheiben Brot. Gerade beim Frühstück müsste man also das Doppelte rechnen."
Vier Scheiben Brot statt zwei? Boah. Und zum Mittag- oder Abendessen?
"Der klassische deutsche Teller mit Kartoffeln, Fleisch, irgendein Gemüse: passt. Ein Gericht beim Asiaten mit Reis, Fleisch oder Tofu und Gemüse: passt. Ein Döner: passt. Was schon viel weniger funktioniert, ist ein Salat. Ja, auch ein großer Salat, oder ein Salat mit etwas drauf. So viel Fetakäse kann man gar nicht draufpacken, dass es am Ende genug ist. Und wenn wir bei dir von 2.500 Kalorien ausgehen, stellt sich auch die Frage: Von welchem Tag reden wir eigentlich? Von einem Sonntag, an dem du spazieren gehst, oder einem Mittwoch, an dem du den ganzen Tag im Büro sitzt und am Ende aufs Sofa fällst? Oder von einem Tag, an dem du trainierst? Bei mir schwankt die tägliche Kalorienzahl von 2.500 bis 5.500, je nachdem, was ich mache."
Kann ich auch ohne Kalorienzählen merken, ob ich genug gegessen habe?
"Du merkst es beim Training. Das ist in meinen Augen das einzige Maß, das funktioniert. Ich kann nur besser werden, wenn ich dem Körper vorher zur Regeneration alles gegeben habe, was er braucht."
Ist damit nur Essen gemeint?
"Im besten Fall hast du genug gegessen, genug geschlafen, bekommst alle Makro- und Mikronährstoffe, warst nicht zu gestresst, bist nicht krank. Und wenn du beim Training bist und merkst, du kannst dich nicht steigern, und dir fällt ein, ach ja, ich habe die letzten zwei Nächte durchgearbeitet, dann weißt du Bescheid. Mein Tipp wäre also immer, systematisch die Belastung zu steigern und zu schauen, ob das klappt. Das müssen keine Gewichte sein. Es kann auch bedeuten, zweimal statt einmal um den Block zu gehen oder zwei Minuten länger zu joggen."
Über mein Training werde ich noch gesondert schreiben, aber ich kann jetzt schon sagen: Es funktioniert. Im Leben hätte ich nicht gedacht, dass mein Körper in der Lage ist, immer schwerere Lasten zu heben.
Es war, als hätte ich einen inneren Schalter umgelegt. Es ging nicht mehr darum, möglichst wenig zu essen, sondern schlicht genug. Ich sorgte dafür, dass ich sofort nach dem Training etwas aß, dass ich nie hungrig ins Bett ging, ich nahm mir Zeit für ein Frühstück. Das Ganze fühlt sich nicht nach Gelage an oder nach Kontrollverlust, sondern nach Fürsorge – so kitschig das klingen mag. Mein Leben ist stressig genug. Ich brauche nicht auch noch diesen konstanten Warnton, der vor einem leeren Tank warnt. Was ich brauche, im Alltag und beim Training: Kraft. Die habe ich jetzt.
Neulich stieß ich bei Instagram auf die Story einer Influencerin, der ich folge. Sie erzählte von ihrer Pilates-Stunde, die sie gerade gehabt hatte, nun wartete sie hungrig am Bahnhof auf ihren Zug, der verspätet war, sie wohnt im Umland. Sie fotografierte einen dieser typischen Snack-Automaten und schrieb drunter "Abendessen" – um im nächsten Slide aufzulösen: "Auf keinen Fall. Lieber esse ich nix als das. Zuhause wartet ein hartgekochtes Ei." Zu sehen war ein Selfie, auf dem sie angewidert das Gesicht verzog. Sie ernährt sich nach eigenen Angaben Low Carb.
Früher hätten mich solche Geschichten verunsichert. Sollte ich auch mit einem Ei am Abend auskommen? Heute denke ich: Jeder, wie er mag. Aber für mich grenzt so ein Essverhalten mittlerweile an Selbstsabotage.
Dieser Text ist Teil der Kolumne "Iss doch einfach!". Darin schreibt Emilia Smechowski alle zwei Wochen darüber, warum wir essen sollten, was wir wollen, anstatt uns ständig einzuschränken – und warum genau das sogar gesünder ist. Die Serie kann man hier auch als Newsletter abonnieren.
7 Kommentare
Unmög
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Interessant. Und wie machen das die Menschen, die kein Fleisch essen und trotzdem stark sind?
Blessem21
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Eigentlich krass, dass man einen teuer bezahlten Personal Trainer benötigt, der einem das Natürlichste der Welt beibringt: Sich satt zu essen.
Quick Ben
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Ein weiteres Mosaikbausteinchen im vergnüglichen Spiel bei Zeit-online zum Thema "Ernährung, Freunde und Co". Das Blöde ist nur, dass es in aller Regel bei Mosaikbildern eine Idee gibt, wie das fertig gestellt aussehen sollte. Hier befinden wir uns in der Dauersammelphase, ableitbare/anwendbare Schlussfolgerungen verbleiben im Dauernebel und das Thema in der Dauerschleife.
Cervesa
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Im Klettern gab's in Deutschland lang den bekannten Trainer Udo "Udini" Neumann, der ein Buch darüber geschrieben hat, wie man sich darin verbessert. Schon 2010 hat er darauf hingewiesen, das unbedingt ausreichend und vielseitig gegessen werden muss. Insbesondere bei Mädchen und Frauen. Weil man unter Mangelernährung krank werden und nicht genug Leistung abrufen kann. Jetzt ist klettern natürlich ein Sport, wo leicht sein hilft. Und trotzdem ist das Thema noch immer sehr groß. Wir müssen ausreichend futtern!